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Titel:

Herisauer Hungertäfeli

Thema: Leute

Ort: Herisau    (Karte anzeigen)

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Datum: --.--.1817

Masse: 16 x 20,5 cm

Standort: Vorbesitz Elsa und Werner Nänny, Herisau; seit 2010 Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, KB-015012

Urheber/-in:

Beschreibung:

Das Hungertäfeli wurde 1817 zur Zeit des Hungerjahres 1816/17 in Herisau verfasst. Es zeigt eine Auflistung verschiedener Lebensmittel mit deren Preisen. 1816 setzte eine Teuerung ein, welche bis dahin unbekannte Ausmasse annahm.

Das Hungertäfeli ist aus festem Papier. Farbige Blumenmotive zieren den Text. Der Text ist mit Tinte geschrieben. Durch die jahrelange Lagerung in einem braunen Holzrahmen ist der Rand des Papiers vergilbt.
 

Geschichte:

Die Ursache der Krise von 1816/17 ist nicht monokausal zu erklären. Die Hungersnot war die Folge einer Kette von mehreren verhängnisvollen Ereignissen. Einerseits war 1815 der Vulkan Tambora auf Indonesien ausgebrochen, der alle bisher bekannten Vulkanausbrüche an
Zerstörungskraft übertraf. Die Schmutzwolken blieben jahrelang in der oberen Stratosphäre hängen. Sie schirmten das auf die Erde einfallende Sonnenlicht ab, so dass die Temperaturen zurückgingen. Zudem fiel der Ausbruch des Vulkans ohnehin in eine Kälteperiode, welche von 1810 bis 1860 dauerte. Die kalten Temperaturen waren vor allem in Nordamerika,
aber auch in Westeuropa verheerend bemerkbar. Begleitet wurden die kalten Wochen von Gewittern, Hagelstürmen und Überschwemmungen. Andererseits war die Hungersnot auch wirtschaftlich bedingt. Sie wurde durch Konjunktureinbrüche in der Textilindustrie mitverursacht. In den Gebieten mit protoindustrieller Beschäftigungsstruktur verbreitete sich die Arbeitslosigkeit und verschärfte damit die Hungersnot zusätzlich.

Aus vielen Berichten der Ostschweiz tönte es 1816 gleich. "Ein schöner Tag war im Jahr 1816 eine sehr grosse Seltenheit. Fast das ganze Jahr war kalt und regnerisch." (Specker, S. 14, Fortsetzung bei Zusatztexten). Mehrere Berichte beschrieben die Teuerung. Vor der Hungersnot war Pferdefleisch nur von wenigen Leuten gegessen worden, jetzt galt es soviel wie Kalbfleisch. Das Brot war teurer als Käse. Dem Vieh fehlte es so sehr an Futter, dass die Bauern dem halbverhungerten Vieh sogar Tannenzweige verfütterten. Ausserdem wirkte sich die Verdienstlosigkeit fatal aus. Der breiten Bevölkerung fehlte es an Mitteln, die hohen Preise bezahlen zu können. Schliesslich überboten die Preislisten der Lebensmittel im Frühjahr 1817 alles je Erlebte. Nicht einmal die Teuerung während der Hungersnot 1770/71 hatte einen solchen Umfang angenommen. Zur Katastrophe kam dazu, dass das Brot umso teurer wurde, je weiter weg es vom Kornmarkt verkauft wurde. Des Weiteren liessen privilegierte Orte der Eidgenossenschaft ohne grosse Skrupel die von Lebensmittelknappheit bedrohten Orte im Stich. Im März 1816 führte die Waadt ein Ausfuhr- und Fürkaufsverbot ein. Bern folgte am 8. Juli 1816. Diese Massnahmen standen im Widerspruch zum Bundesvertrag. Dieser bestimmte die Gewährleistung des freien Verkaufs, sowie die ungehinderte Aus- und Durchfuhr von Lebensmitteln zwischen den Kantonen, solange der damit verbundene Vorbehalt der "Polizeimassnahmen gegen schädlichen Fürkauf" eingehalten werden konnte. Diese "Polizeimassnahmen" begünstigten jedoch den regionalen Egoismus und "Exzesse des triumphierenden Kantönligeistes" (Specker, S. 15f).

Ausser dem Kanton Glarus war kein Kanton von der Hungersnot so schlimm betroffen wie das Appenzellerland. Für das Jahr 1817 verzeichnete die Geburts-, Toten- und Eheliste 3532 Tote bei nur 1082 Geburten.

Autorin: Nina Sonderegger, Speicher

Chronologie:

1770/71 Grosse Hungerkrise in der Ostschweiz

1816/17 Hungerjahr in der Ostschweiz mit besonderer Heftigkeit in der Nordostschweiz

Literatur:

Kurmann, Fridolin: Hungersnöte. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.11.2006. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D16226.php (12.8.2010).

Specker, Louis und Historischer Verein des Kantons St.Gallen (Hrsg): Die grosse Heimsuchung. Das Hungerjahr 1816/17 in der Ostschweiz. Rorschach 1993, S. 14-42.

Zusatztexte:

"Ein schöner Tag war im Jahr 1816 eine sehr grosse Seltenheit. Fast das ganze Jahr war kalt und regnerisch. Darum waren alle Feldfrüchte noch sehr zurück, und keine Art von Frucht war wohlgerathen. Noch waren die späten Saaten in unsern Gegenden nicht ganz reif, und der Hafer war noch grün. Der Wein drohte unreif und grün an den Reben zu gefrieren. Die
Gartengemüse waren durch eine Unzahl von Schnecken grösstentheils gefressen worden. Das Heu und Emt [...] war in immerwährender Nässe aufgewachsen, und nur mit Mühe hatte man es an seltenen Sonnenblicken trocknen können. Wo man in trockenen Jahren dreissig bis vierzig
Viertel Erdäpfel [...] erntete, erntete man in diesem Jahre nur zehn oder fünf Viertel. An manchen Orten liess man sie den Mäusen im Boden, weil es sich den Bauern nicht einmal der Mühe lohnte, sie heraus zu graben. Die Erdäpfel waren meist erbärmlich schlecht, käsig, glasig, räudig. Obst war sehr wenig gewachsen. Das gewachsene war kraftlos und sehr teuer.
Schon fingen die Lebensmittel an, theurer zu werden." (Specker, S. 14).

Transkription:

Herisauer Hungertäfeli

Im Juni 1817 galt ein Viertel Korn 40 Gld,
ein Vierlig Schiltmehl 40 Bz. ein Brod 28 Bz, ein Vierlig
Musmehl 32 Bz., ein Vierlig Gersten u. Ärbs glich 3 Gld,
1 Pfd Erdepfel 8 Krz, 1 Pfd Rindfleisch 14 Krz. Ochsen- und Kalb-
Fleisch 15 Krz, 1 Pf. Speck 48 Krz. Unschlig 56 Kruz. Lebendige
Schwin 28 Krz. 1 Pfd neuen Käs 14 alten 20 Krz. 1 Pf. Schmalz
40 Krz 1 Mass Milch 6 Krz. 1 Mass Wein 48 Krz. 1 Zenter
Heu 5 Gld, 1 Mass Land-Honig 5 Gld, und kein Verdienst
im Land, nur voll arme Leute, Dass im Abril 1817
in Herisau an einem betel Tag, vor
einem Haus 9.50 Bettler gewesen sind.

Tags:

Herisau, Appenzell Ausserrhoden, Katastrophe, Bevölkerung, Leute, Bericht, handschriftlich, Textilindustrie, Ernährung, Nahrungsmittel, Naturereignis, Hungersnot

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