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Erstes Fabrikreglement in Appenzell Innerrhoden

Thema: Wirtschaft

Ort: Appenzell    (Karte anzeigen)

Datum: 07.03.1878

Standort: Landesarchiv Appenzell Innerrhoden, E.14.21.01f, Protokolle Standeskommission, 1876-1882, S. 294ff.

Urheber/-in: Standeskommission des Kantons Appenzell Innerrhoden

Beschreibung:

Protokoll zu Traktandum 9 der Sitzung der Standeskommission des Kantons Appenzell Innerrhoden vom 7. März 1878, worin das Fabrikreglement der Stickfabrik im Ziel in Appenzell festgehalten wurde. Es handelte sich um das erste Fabrikreglement in Appenzell Innerrhoden.

Geschichte:

Die Stickereiindustrie konnte in Appenzell Innerrhoden in den 1870er-Jahre auf bescheidenem Niveau Fuss fassen. Grösstes Fabriketablissement war die Stickfabrik im Ziel, am Nordrand des Dorfes Appenzell, mit 90 Stickmaschinen.

Mit dem damaligen schweizweiten Industriewachstum begann die Öffentlichkeit zunehmend die zum Teil katastrophalen, ja ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse, etwa die Kinderarbeit, wahrzunehmen. Bis zur Bundesverfassung 1874 oblag es den Kantonen, die Fabrikarbeit zu regulieren und zu kontrollieren. 1878 trat endlich das Bundesgesetz betreffend die Fabrikarbeit in Kraft, das so genannte Fabrikgesetz, das Eckwerte für die Arbeitsbedingungen aber auch Schutzbestimmungen für Frauen und Kinder festlegte. Für den Vollzug des Gesetzes waren die Kantone zuständig (u.a. Genehmigung Fabrikreglemente). Das neu geschaffene eidgenössische Fabrikinspektorat überwachte die Einhaltung des Gesetzes. Am 7. März 1878 bewilligte die Standeskommission mit «etwelchen Abänderungen & Erläuterungen» das Fabrikreglement der Ziel-Fabrik, das «fürderhin eine Richtschnur» darstellen sollte für weitere Reglement in Innerrhoden.

Die Standeskommission scheute sich nicht, an eingesandten Fabrikreglementen eigenhändig Änderungen vorzunehmen. Ebenso schickte sie Entwürfe zur Korrektur oder näheren Präzisierung an die Absender zurück.

Trotz der Fabrikreglemente und durchgeführten Kontrollen entsprachen die Arbeitsverhältnisse vielfach nicht dem Fabrikgesetz. So stellte das eidgenössische Fabrikinspektorat 1879 fest, dass in einigen Appenzeller Fabriken minderjährige Kinder als Fädler beschäftigt würden. Die Besitzer würden den Inspektor zu täuschen versuchen, «indem sie bei seinem Eintritt in die Fabrik diese Kinder rasch aus den Säälen, sogar durch das Fenster entfernten.» Ähnliche Klagen folgten in späteren Jahren.

Sandro Frefel, Appenzell

Literatur:

Frefel, Sandro: Die Ziel-Fabrik in Appenzell. Ein Stück Industriegeschichte in Innerrhoden. In: Appenzellische Jahrbücher 144 (2017), S. 73-102.

Studer, Brigitte: Art. «Fabrikgesetz». In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D13804.php, Version 20.09.2007 [16.05.2017].

Transkription:

Reglement:

Jeder Arbeiter, der in der Fabrik zu arbeiten wünscht, muss von dem Herrn Direktor die Zustimmung erhalten haben & sich den untenstehenden Regeln unterziehen:

1.    Jeder Sticker muss seine Fädler selbst einstellen & wird er sie auch von sich aus bezahlen lassen. Es wird keine Reklamation von Fädlern oder Fädlerinnen angenommen.

2.    Jeder Sticker oder Nachstickerin, der die Fabrik verlassen will, muss dies 14 Tage vorher dem Direktor anzeigen & zwar in dem Moment, wo er das Geld in Empfang nimmt, andernfalls wird ihm 1. die in Ausführung begriffene Arbeit nicht bezahlt, 2. die Bussen & Entschädigungen nach Art. 12 & 13 werden auf seine Rechnung gestellt 14 Tage lang, 3. der Inbehalt von Art. 9 wird ihm nicht bezahlt. Die Aufkündigung des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeiter muss ebenfalls 14 Tage vor der beabsichtigten Entlassung geschehen; grobe Verstösse seitens der Arbeiter vorbehalten. In letzterem Falle könnte sofortige Entlassung stattfinden.

3.    Mit jedem Montage wird dem Sticker ein Arbeitszedel mitgegeben, auf welchem die No. der Stickete, des Dessins, des Garnes & des Stoffes bezeichnet sind. Dieser Zedel muss mit der ausgeführten Arbeit zurückgegeben werden.

4.    Für jede Maschine ist ein Büchlein ausgestellt, in welchem verzeichnet sind: der Name des Stickers, das Datum seines Eintrittes in die Fabrik, die Detaile der verschiedenen Stücke & Werkzeuge, die ausgeführten Sticketen & die ihm an den Zahltagen ausbezahlten Summen.

5.    Unter keinen Umständen darf der Sticker seine Maschine ohne spezielle Bewilligung des Herrn Direktors ändern.

6.    Das Garn & die verschiedenen Werkzeuge werden nur von morgens 8–10 Uhr & nachmittags von 4–5 Uhr ausgetheilt.

7.    Die Arbeitsstunden sind wie folgt: Im Sommer von morgens 6 Uhr bis mittags 12 Uhr & nachmittags von 1–7 Uhr abends, im Winter vom morgens 7 Uhr bis mittags 12 Uhr & nachmittags von 1 bis 8 Uhr abends. Inzwischen wird eine halbe Stunde für Morgenessen von 8–1/2 9 Uhr & eine halbe Stunde für Abendessen von 4–1/2 5 Uhr, jedoch ohne das die Arbeiter aus der Fabrik gehen können. Die Frauen können um 1/2 12 Uhr die Fabrik verlassen, nachdem sie die Contremaitres davon avisiert haben.

8.    Die Arbeitssaalthüren werden von den Stickermeistern, welche beim Ein- & Austritte des Stickers überwachen, geöffnet & geschlossen werden.

9.    Die Sticker sind für ihre zu der Maschine gehörenden Werkzeuge verantwortlich. Als Garantie wird jedem Sticker 10 Fr. & jeder Nachstickerin 5 Fr. an den ersten Zahltagen zurückbehalten, welche man jedoch laut Erwähnung im Arbeitsbüchlein beim regelmässigen Austritte aus der Fabrik zurückerstatten wird.

10.  Für die zerbrochenen Lampengläser & Fensterscheiben wird der Sticker belastet, sofern dieselben durch sein eigenes Verschulden demoliert wurden.

11.  Die Nachstickerinnen werden dem Sticker abgerechnet zu 15 Rp. per Stunde, gleichwohl wird ihm 1 1/2 Stunde per 1000 Stiche bewilliget für fehlerhafte Arbeit.

12.  Jedem Sticker, welcher ohne Bewilligung vom Herr Direktor abwesend war & derselbe nicht massgebend seine Abwesenheit durch ein ärztliches Zeugnis oder durch einen Ausweis des Bezirkshauptmannes wegen drängender Umstände beweisen kann, bezahlt als Maschinenentschädigung für einen halben Tag 1 Fr. 50 Rp. & für einen ganzen Tag 3 Fr. 00.

13.  Jeder Sticker, welcher zu spät erscheint oder zu früh fortgeht ohne Urlaub bezahlt für 15 Minuten 20 Rp., für 30 Minuten 40 Rp., für 1/4 Tag 75 Rp. (als Maschinenentschädigung zu betrachten) [Von späterer Hand hinzugefügt:] ausnahmsweise Fälle vorbehalten. Sind als Bussen zu betrachten, die in die Krankenkasse zu fallen haben.

14.  Für schlechtes Putzen am Samstage 50 Rp. & fällt in die Krankenkasse.

15.  Beim verlieren oder zerreissen eines Büchleins, wird ein Abzug von einem Franken gemacht.

16.  Zahltag wird alle 14 Tage stattfinden. In denselben sind Sticketen inbegriffen, die am Vorabend des Zahltags abgeliefert werden, sowie die im Artikel 12 & 13 erwähnten Entschädigungen & Bussen.

17.  Wenn ein Sticker einen gestickten Streifen verliert, oder in der Arbeit zerreisst, hat er nach bisheriger Übung den Stoff zu bezahlen & nebenbei noch den Arbeitslohn noch zu verlieren gehabt. Letzteres kann nur fortbestehen, falls Fahrlässigkeit des Arbeiters obwaltet. In keinen Fällen muss das Dessins aus der Fabrik gefolgert werden.

18.  Die Fabrik ist an Sonntagen geschlossen und an folgenden Tagen: 1. Osternachheiligtag, 2. Pfingstnachheiligtag, 3. Auffahrt, 4. Fronleichnamsfest, 5. Maria Himmelfahrt, 6. St. Mauritz, 7. Allerheiligen, 8. Weihnachtnachheiligtag. Sofern das Weihnachtsfest auf einen Sonntag fällt, bezieht sich die Feiertagsbestimmung auf die Gewährung des Nachheiligtages.

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Text, Appenzell, handschriftlich, Textilindustrie, Industrie

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