Bild
Titel:
Das Brot in Herisau, in Italien das Herz
Thema: Wirtschaft
Ort: Herisau (Karte anzeigen)
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Datum: --.--.1909
Masse: 126 x 124 cm
Standort: Pfarrarchiv Herisau
Urheber/-in: Lega Operaia Cattolica Italiana
Beschreibung:
Fahne der «Lega Operaia Cattolica Italiana», gestaltet nach dem Vorbild damaliger Vereinsfahnen mit Stickerei-Applikationen. Eine Besonderheit auf der Vorderseite ist der Handschlag in Wolken, wohl die Hoffnung auf Arbeitsfrieden und Solidarität ausdrückend. Auf Italienisch ziert der Wahlspruch «Einer für alle, alle für einen» die blaue Fahnenrückseite.
Geschichte:
Heute wird in der Schweiz oft Unmut darüber laut, wie klein der Wille zur Integration sei. Immigranten-Gruppen würden lieber unter sich bleiben und nicht wirklich in der neuen Heimat ankommen. Ist da die prächtige Vereinsfahne der Lega Operaia Cattolica Italiana aus dem Jahr 1909 ein Lehrstück aus vergangenen Zeiten, dass es auch anders ging? – Schliesslich wimmelt es auf dieser Fahne nur so vor patriotischer Symbolik. Findet sich hier also ein Zeugnis geglückten Ankommens in der neuen Heimat?
Die eidgenössische Volkszählung im Jahr 1900 brachte ans Licht: 561 Personen mit italienischen Papieren lebten damals in Appenzell Ausserrhoden; deutlich weniger als etwa die 1506 Personen aus dem Deutschen Reich. Während die Zahl der deutschen Einwanderer bis ins Jahr 1910 nur moderat anstieg, verdreifachte sich die Zahl der Italienerinnen und Italiener beinahe. Es lockte ein Einkommen im Textilsektor und vor allem beim Bau der Bodensee-Toggenburg-Bahn. Damit lebten und arbeiteten um 1910 über 1400 Menschen aus Italien in Ausserrhoden, zumeist in und um Herisau – zehnmal mehr als zur selben Zeit in Appenzell Innerrhoden.
Die wachsende Zahl der Italiener in Ausserrhoden zog Vereinsgründungen mit sich, so auch diejenige der Lega Operaia Cattolica Italiana. Dieser Verein steckte sich zum Ziel, in Not geratenen Landsleuten zu helfen und den katholischen Lebenswandel zu fördern, nämlich «ein gutes Beispiel religiöser Einhaltung, echten Katholizismus und gemeinsamer christlicher Sitten» zu sein. Doch in den Statuten des Vereins liest sich vieles anders als die schweizerisch-patriotische Bildsprache der Fahne. Es wird ersichtlich, dass sich die Italiener einer doppelten Minderheit in Ausserrhoden angehörig fühlten: als Ausländer und als Katholiken. Und darum galt es, in der Fremde zusammenzustehen und das Verbindende zu bewahren. Von der Nothilfe konnte zum Beispiel nur profitieren, wer Italienisch sprechen konnte, und es war verboten, Kritik am Katholizismus zu äussern. Andere Aufnahmebedingungen des Vereins lesen sich heute als Bemühen, keinen Ärger aufkommen zu lassen: Nichts, was dem Verein schadete, durfte geäussert werden, namentlich «keine sozialistischen, anarchistischen Lehren». Überhaupt sollten die Mitglieder in ihrem Benehmen «gute Bürger» ausmachen und die eigenen Papiere in Ordnung halten. Was ist nun von diesen Absichten zu halten?
«Tschinggen» – ungeliebt und verspottet Fasnachtssprüche aus jener Zeit führen zu den Ressentiments gegenüber Italienern: Im «Prinz Carneval» liess man einen «Giacomo Dateli» berichten, dass es sich in «Hehri Sau» sehr gut leben lasse. Er kaufe billige Waren in Italien ein und verkaufe sie teuer an «dummi Svizzeri, wo nüd merggä, wenn bschissa». Und weiter: «I fifä uf Patria, mir gfallä am beste, wo guet got». Die Liste der Vorurteile gegenüber Italienern war lang. Sie galten als «heissblütige Tschinggen», als laute, hinterlistige und unreinliche Zeitgenossen. In Herisau beschriftete man Verbotstafeln gegen Ablagerung von Schutt in den Bächen um 1910 vorsorglich auch auf Italienisch. Der Argwohn der Einheimischen muss so gross gewesen sein, dass die Lega Operaia den Vorurteilen mit einer gehörigen Portion «Swissness» auf ihrer Fahne begegnete. Der 1. Weltkrieg liess viele Italiener fluchtartig die Rückreise in ihr Heimatland antreten. Erst nach 1945 sollte ihre Zahl im Kanton wieder ansteigen. Spätestens dann wird ein weiteres Kapitel aufgeschlagen in der spannenden Geschichte von Fremden bei uns und von unserem Umgang mit Fremden.
Autorin: Damiana Widmer, Speicher
Literatur:
Quellen:
KBAR, App P 359 Prinz Carneval. Faschingszeitung. Herisau 1912.
PfA Herisau, KHS 99-01 Statuto per la Lega Operaia Cattolica Italiana di Herisau e dintorni, Winterthur 1908.
Statistisches Bureau des Schweizerischen Finanzdepartements: Die Ergebnisse der Eidgenössischen Volkszählung vom 1. Dezember 1910. Bd 1 und 3. Bern 1915 und 1918.
Literatur:
Fuchs, Thomas et al.: Geschichte der Gemeinde Herisau. Herisau 1999.
Hug, Damiana: «HeissblütigeTschinggen» und «kreuzbrave Schwoba»: Die Wahrnehmung von Italienern und Deutschen in St. Gallen an der Wende zum 20. Jahrhundert. Zürich 2001.
Schiavone, Michele et al.: Storie di Italiani nella Svizzera Orientale. St. Gallen 2001.
Tags:
Herisau, Verein, Fahne, Italien, Einwanderer
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