Zeitzeugnisse

Drucken Alle Suchresultate Artikel davor Artikel danach

 

Bild

Titel:

Handstickerei-Zeugnis von Marie Koller

Thema: Wirtschaft

Ort: Gonten    (Karte anzeigen)

zeitzeugnisse auf einer grösseren Karte anzeigen

Datum: --.--.1902

Masse: 28 x 34,5 cm

Standort: Museum Appenzell, Obj.-Nr. 8303

Urheber/-in: Präsidenten der staatlichen Industrie-Kommission und des Handstickerei-Industrie-Vereins

Beschreibung:

Zeugnis für die Gontnerin Marie Koller zum Abschluss des Handstickerei-Kurses 1902. Das Dokument ist unterschrieben vom Präsidenten der staatlichen Industrie-Kommission, Statthalter Adolf Steuble, sowie vom Präsidenten des Handstickerei-Industrie-Vereins, Wilhelm Neff. Die Lithographie zeigt eine Handstickerin in Tracht mit Stickstock vor dem Bergpanorama des Seealpsees.
 

Geschichte:

Die Handstickerei hatte nach 1850 in Appenzell Innerrhoden grosse wirtschaftliche Bedeutung erlangt. In der Folge wurden von 1889 bis 1955 für schulentlassene Mädchen regelmässig Einführungs- und Fortbildungskurse durchgeführt. Die Stickerei-Fachkurse stiessen auf breites Interesse. Im Frühjahr 1902 nahmen 64 junge Frauen am siebenwöchigen Kurs teil. Unter ihnen absolvierte Marie Koller erfolgreich den Lehrgang Plattstich. Wahrscheinlich handelte es sich um die 1884 geborene Marie Antonia Koch-Koller («Grefe-Seffe-Marie») von Gonten («Zollhüsli»), die 1965 verstorben ist.

Durch das Aufkommen der Maschinenspinnerei gegen Ende des 18. Jahrhunderts ging die Handspinnerei stark zurück. An ihrer Stelle fasste die Handstickerei Fuss, zuerst in der Stadt St. Gallen, im Toggenburg, im Rheintal und in Ausserrhoden. Dann wurde sie Anfang des 19. Jahrhunderts auch in Innerrhoden heimisch und war nach der Hungersnot von 1817 überlebenswichtig.

Mit dem Aufschwung der Plattstichweberei ab 1830 und der Maschinenstickerei um 1850 verlor die Handstickerei in der Ostschweiz an Bedeutung und beschränkte sich fortan ganz auf Appenzell Innerrhoden. Hier konnte sich die mechanische Stickerei nicht durchsetzen. Um 1880 waren 2050 Arbeiterinnen in der Handstickerei beschäftigt. Die höchste Zahl wurde im Jahre 1920 mit 2976 Stickerinnen erreicht, was über einem Drittel der berufstätigen Bevölkerung entsprach.
Die Handstickerei war für viele Familien eine lebenswichtige Einkommensquelle. Der Fergger oder meistens die Ferggerin verteilte als Bindeglied zwischen Fabrikant und Stickerin die Aufträge und sammelte die fertige Ware ein. Dank hochstehender Qualität gehörten erstklassige Modegeschäfte in europäischen Grossstädten zu den Abnehmern. Innerrhodische Broderiehändler brachten die feinen Textilien auch in die noblen Kurorte des Deutschen Reiches und der Donaumonarchie. Nach einem vorübergehenden Einbruch während des 1. Weltkrieges erholte sich die Stickereibranche in Appenzell wieder und behauptete sich trotz ausländischer Konkurrenz und konjunktureller Krisen. Noch 1945 waren 1500 Personen in diesem Erwerbszweig tätig. Zehn Jahre später zeichnete sich aber ein allgemeiner, unaufhaltsamer Rückgang ab. Heute pflegen nur noch wenige Frauen die Stickerei als Hobby.

Die ersten Anleitungen zur Handstickerei erhielten die jungen Mädchen von ihren Müttern. Angesichts der grossen Nachfrage regte Landammann Johann Baptist Emil Rusch im Jahre 1881 eine gründliche Fachausbildung der schulentlassenen Mädchen an. Am 1. April 1889 startete der erste Handstick-Fachkurs. Fast alljährlich wurde der siebenwöchige Kurs wiederholt und gelegentlich sogar doppelt oder mehrfach geführt. Die meisten Teilnehmerinnen entschieden sich für den Plattstich-Kurs, so auch Marie Koller, etwa ein Drittel für das Leiterlen und einige wenige für das Höhlen und Spitzlen oder gar für das anspruchsvolle Festonieren.
Die Teilnehmerinnen arbeiteten täglich zehn bis elf Stunden. Sie bezahlten kein Lehrgeld und erhielten keinen Lohn. Seit 1902 war die Verpflegung für Mädchen aus einfachen Verhältnissen kostenlos. Für die Unkosten kamen der Industrieverein sowie Bund und Kanton auf. Wenn die Stickerinnen während des Lehrgangs gleichzeitig im Auftrag von Fabrikanten und Ferggern arbeiteten, wurden sie dafür entschädigt. Um ihren Fortschritt zu veranschaulichen, mussten sie am ersten und letzten Kurstag je eine Ecke eines Taschentuchs oder Nadelkissens besticken.

Autor: Josef Küng, Appenzell

Literatur:

Grosser, Hermann. Hangartner, Norbert: Appenzeller Geschichte. Bd. 3: Appenzell Innerrhoden von der Landteilung 1597 bis ins 20. Jahrhundert. Herisau, Appenzell 1993, S. 495–499.

Inauen, Roland. Langenegger, Birgit: Appenzeller Handstickerei. Weihnacht im Hof Weissbad 2011. Appenzell 2011.

Küng, Josef et al.: Unser Innerrhoden. 2. Aufl. Appenzell 2003, S. 236–238.

Neff, Karl Augustin: Die Appenzeller Handstickerei-Industrie. Heimarbeitsstudie. Appenzell 1929, S. 42–62, 63–75, 105–116.

Weishaupt, Achilles: Geschichte von Gonten. 2 Bde. Gonten 1997.

Tags:

Handstickerei, Ausbildung, Gonten, Zeugnis, Frauen, Textilwirtschaft

Ähnliche Themen:

Gonten Handstickerei Ausbildung Zeugnis Frauen Textilwirtschaft