Zeitzeugnisse

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Titel:

«Sternengugger»: Nirgendwo daheim

Thema: Leute

Ort: Appenzell    (Karte anzeigen)

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Datum: --.--.1853

Masse: 14,5 x 11,2 cm

Standort: Staatsarchiv St. Gallen, BMD Porträts, Eingebürgerte Heimatlose, Tafel XXXVII

Urheber/-in:

Beschreibung:

Fahndungsbild von Franz Schaffitel. 1852 erteilte der Bundesrat dem Fotografen Carl Durheim den Auftrag, die im Rahmen einer Polizeiaktion aufgegriffenen Heimatlosen zu fotografieren. Der Maler Wüst fertigte 1853 von den Fotos Lithographien an, die auf Bogen gedruckt und an die kantonalen Polizeistellen zu Fahndungszwecken verteilt wurden.
 

Geschichte:

Die Lebensweise der Heimatlosen und Fahrenden war der Gesellschaft im 19. Jahrhundert ein Dorn im Auge. 1850 wollten die Bundesbehörden die fahrende Lebensweise mit einer grossangelegten Polizeiaktion unterbinden. Sie griffen Hunderte von Heimatlosen auf und brachten sie in Untersuchungshaft nach Bern, wo sie verhört und fotografiert wurden. Neben dem «Waldbruder», der «lahmen Lisebeth» und dem «Lütere-Bub» landete auch der «Sternengugger», mit bürgerlichem Namen Franz Schaffitel, in der ersten Fichenkartei der Schweiz. Besondere Kennzeichen: «ungleiche Augen und sehr starker Kropf».

Franz Schaffitel, 1802 in Oberstorf in Bayern geboren, war aus heutiger Sicht ein Sans-Papiers. Ihm, allenfalls bereits seinen Vorfahren, war das Gemeindebürgerrecht entzogen worden. Gründe hierfür konnten ein Konfessionswechsel, ein «liederlicher» Lebenswandel oder eine längere Abwesenheit vom Heimatort sein. Der Rechtsstatus «heimatlos» hatte für Franz Schaffitel einschneidende Folgen: Er konnte seine «Konkubine» Anna Elisabeth Egger nicht legal heiraten, die drei Kinder wurden unehelich geboren. Weil er sich nirgends niederlassen durfte, zog er mit seiner Familie im Bodenseeraum umher, insbesondere in Appenzell Innerrhoden. Armenunterstützung erhielt Franz  Schaffitel auch nicht, obwohl er sie bitter nötig gehabt hätte: Sein Verdienst als «Zeinenmacher» reichte fürs Überleben nicht aus, sodass er betteln gehen musste.

1846 beantragte Franz Schaffitel für sich und seine Familie Pässe beim Innerrhoder Wochenrat. Hintergrund hierfür war das Heimatlosenkonkordat, in welchem verschiedene Kantone – darunter beide Appenzell – Heimatlosen einen Teil ihrer Rechte wieder zusprachen. In Innerrhoden erhielten Heimatlose die Erlaubnis, im Kanton zu wohnen und ein Gewerbe auszuüben. Bei der Familie Schaffitel entfaltete der Umstand, dass die Eltern nicht verheiratet waren, eine grosse Tragik: Während die Behörde Franz Schaffitel und den beiden Söhnen Schriften erteilte, blieben Anna Elisabeth Egger und die Tochter weiterhin papierlos. Ob die Familie dadurch getrennt wurde, bleibt offen – der Verbleib der beiden war dem Wochenrat keine Zeile wert. Den Söhnen untersagte die Behörde, zu «Kesslern, Zähnenmachen, Schleifen oder [einen] andern Jauner-Beruf» zu ergreifen.

Das Konkordat verfehlte letztlich sein Ziel, da viele Kantone Heimatlose weiterhin verjagten, anstatt sie aufzunehmen. Nicht selten lieferten sich Heimatlose an der Grenze zu Innerrhoden Katz-und-Maus-Spiele mit den St. Galler Landjägern. 1850 griff daher der Bund ein und schuf mit dem Heimatlosengesetz ein gesamtschweizerisches Fundament. Franz Schaffitel – nun zwar mit Papieren ausgestattet, aber immer noch ohne Gemeindebürgerrecht – gelangte nach Bern, wo er registriert, fotografiert und einem Kanton zur Zwangseinbürgerung zugewiesen wurde. Appenzell Innerrhoden lieferte dem Bund keine Namenslisten ab, aber es liegt nahe, dass Franz Schaffitel zu den 275 Heimatlosen gehörte, die mit den übrigen Bürgerinnen und Bürgern im Kanton gleichgestellt wurden. Wohl oder übel hatte «diese Klasse Menschen» nun Anrecht auf Unterstützung im Armutsfall.
In Appenzell Ausserrhoden gab es eine Zwischenstufe zwischen Heimatlosen und Bürgern, die sogenannten Landsassen. Schweizweit einzigartig, erhielten protestantisch gewordene Innerrhoder das Kantons-, nicht aber das Gemeindebürgerrecht. Dies änderte sich mit dem Heimatlosengesetz: Auf Weisung des Bundes bürgerte Ausserrhoden 71 Landsassen und einen Heimatlosen in den Gemeinden ein.

Autorin: Anna  Schneider, St. Gallen

Literatur:

LAAI, E.12.02.05 Verzeichnisse der Heimatlosen und Geduldeten, 1836–1850.

LAAI, E.14.22.02f Wochenrat, Protokolle, 1844–1851.

LAAI, E.14.11.01f Grosser Rat, Protokolle, 1828–1859.

LAAI, E.12.03.01 Passkontrolle, 1846–1858.

StASG, KA R. 89-1-4 Verzeichnisse von Heimatlosen und Geduldeten, 1813–1898; StASG, KA R. 89 D Heimatlose und Geduldete, Druckschriften, 1833–1864; StASG, BMD Porträts, Eingebürgerte Heimatlose, Tafel I–XXXVIII.

Abschiede der eidgenössischen Tagsatzung 1814–1848. Bd. I. Kapitel "Heimatlosenangelegenheit", S. 888–902.

Argast, Regula: Staatsbürgerschaft und Nation. Ausschliessung und Integration in der Schweiz 1848–1933. Göttingen 2007 (Kritische Studien zur Geschichteswissenschaft, Bd. 174).

Gabathuler, Hansjakob: Fahrendes Volk, Vaganten und fremde Fötzel. In: Werdenberger Jahrbuch 25 (2012), S. 106–124.

Gasser, Martin et al. (Hrsg.): Wider das Leugnen und Verstellen. Carl Durheims Fahndungsfotografien von Heimtalosen 1852/53. Zürich 1998.

Holenstein, André: Landsassen. In: HLS. Version 19.11.2007. URL: http://lexhist.ch/textes/d/D28681.php (09.03.2012).

Meier, Thomas Dominik: Heimatlose und Nichtsesshafte im frühen 19. Jahrhundert. In: Sankt-Galler Geschichte 2003. Bd. 5. St. Gallen 2003, S. 139–152.

Meier, Thomas Dominik. Wolfensberger, Rolf: «Eine Heimat und doch keine». Heimatlose und Nicht-Sesshafte in der Schweiz (16.–19. Jahrhundert). Zürich 1998.

Perret, René: Durheim, Carl [Charles]. In: HLS. Version 22.07.2004. URL: http://lexhist.ch/textes/d/D29478.php (19.03.2012).

Schweizerisches Bundesblatt. Bericht des schweizerischen Bundesrates an die hohe Bundesversammlung über die Geschäftsführung im Jahr 1856.

Witschi, Peter: Minderheiten. Nichtsesshafte unter Sesshaften. In: Hugger, Paul (Hrsg.): Handbuch der schweizerischen Volkskultur. Bd. 2. Basel 1992, S. 837–846.

Wolfensberger, Rolf: Heimatlose. In: HLS. Version 05.12.2007. URL: /lexhist.ch/textes/d/D16093.php (09.03.2012).

Tags:

Appenzell Innerrhoden, Bevölkerung, Bürgerrecht, Lithographie, Heimatlose

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