Zeitzeugnisse

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Titel:

Vom Kleinunternehmer zum Gemeindebeamten

Thema: Leute

Ort: Herisau    (Karte anzeigen)

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Datum: --.06.1826

Masse: d 23 cm

Standort: Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen, Inv. Nr. 9716

Urheber/-in: Anonymer Maler

Beschreibung:

Hochzeitsteller mit Widmung «Das schönste Glück auf dieser Erden, Soll Eüch zu Eürem Antheil werden» für das Ehepaar «H[er]r Lehrer M.[elchior] Steiner» und «Fr.[au] A.[nna] K.[atharina] Steiner, geb. Mo[c]k», 1826.
 

Geschichte:

Bemalte Glückwunschteller bildeten eine kunsthandwerkliche Spezialität des Appenzellerlandes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im beruflichen Werdegang des Beschenkten wiederum spiegelt sich exemplarisch die Modernisierung der Volksschule. Lehrer Melchior Steiner begann das Unterrichten 1819 als 16-jähriger Kleingewerbler in einem kleinen, unheizbaren Mietlokal und beendete es 53 Jahre später als Gemeindebeamter in einem zeitgemässen Landschulhaus. Der mit Widmung versehene Teller war ein Hochzeitsgeschenk für Lehrer Melchior Steiner. Als Schenkende geben sich, vom Maler in mikroskopisch kleiner Schrift im von zwei Puten gehaltenen Schild über dem Fenster aufgetragen, einige Schüler zu erkennen. Die in Herisau aufgewachsenen Melchior Steiner (1802–1873) und Anna Katharina Mock (geb. 1808) heirateten im Juni 1826. Er unterrichtete damals in einem Privatzimmer im Zentrum von Herisau.

Derartige Glückwunschteller sind für den Zeitraum von 1817 bis 1836 nachgewiesen und wa- ren reine Dekorationsstücke. Die Farben wurden nicht eingebrannt, sondern «kalt» auf handelsübliche Teller, in diesem Fall ein Standardprodukt der Manufaktur in Zell am Harmersbach im Schwarzwald, aufgetragen. Ein Schutzlack fehlt. Im Unterschied zu den anderen Hochzeitstellern ist nicht das  Brautpaar, sondern nur der Ehemann, und zwar am Arbeitsplatz, zu sehen.
Als Hersteller solcher Geschenke namentlich bekannt ist einzig der sich als «Mahler und Vergolder» bezeichnende Johann Bartholome Thäler (1806–1850) aus Hundwil. Er erlernte die Malerei vom Vater und lebte ab 1835 in Herisau. Aufgrund der Herstellungsjahre und von Stilvergleichen muss es aber noch andere Tellermaler gegeben haben. Einem von ihnen gab Rudolf Hanhart den Namen «Maler der feinen Gesichter». Von ihm dürfte Melchior Steiners Teller stammen.

Der aus bescheidenen Verhältnissen stammende Melchior Steiner hatte das Glück, ab 1811 die relativ teure Schule des initiativen Junglehrers Johann Jakob Signer (1790–1859) besuchen zu können. Mit 12 Jahren begann er, wie die meisten jungen Leute in seinem Alter, eine Arbeit, und zwar als unbezahlter Gehilfe und Student bei Signer. «Learning by doing» bildete damals die einzige Möglichkeit, sich auf das Lehramt vorzubereiten. Eine fachspezifische Seminarausbildung war erst zaghaft im Aufbau. Ein halbes Jahr nach dem 16. Geburtstag wurde Steiner dann Schulmeister in einem Landbezirk von Herisau. Er mietete eine «unheizbare, niedere schwarze Wanzenkammer» und schaffte sich mit einem Kredit der Mutter Unterrichtsmaterial und Tische an. Der Lohn des selbständigen Schulunternehmers richtete sich nach der Zahl seiner Schulkinder. Zwei Jahre später fand er ein Lokal im Dorf, wo es ihm besser gefiel.
Bald darauf vollzogen sich in Herisau die entscheidenden Schritte zur Schaffung einer modernen Volksschule im heutigen Sinn: Mit der Unterstützung privater Spender schuf die Gemeinde 1825 einen Fonds für Freischulen, also kostenlosen Primarschulunterricht. Von 1829 bis 1833 liess sie vier öffentliche Schulhäuser erbauen. An Ostern 1834 hiessen die Stimmbürger dann die kostenlose Primarschule gut. Die Besoldung der Lehrer ging von den Eltern an die Gemeinde über. Melchior Steiner gehörte zu den ersten neun Nutzniessern dieser Modernisierung. Er konnte das neue Schulhaus im Ifang beziehen, das ihm für vierzig Jahre zum Wohn- und Arbeitsort wurde. Aus dem selbständigen Kleinunternehmer wurde ein Gemeindebeamter.

Autor: Thomas Fuchs, Herisau

Literatur:

Museum Herisau, Inv. 10059; Objekte im Museum Herisau und im Historischen und Völkerkundemuseum St. Gallen.

Rüsch Gabriel: Der Appenzeller Chronik von Gabriel Walser vierter Theil, in welchem alle Begebenheiten, so sich von 1772 bis 1798 zugetragen, unpartheiisch beschrieben sind. Trogen 1831.

Fuchs, Thomas: Start «in einer unheizbaren, niedern schwarzen Wanzenkammer» – Lehrer Melchior Steiner-Mock (1802–1873). In: Appenzeller Kalender 2007, S. 50–57

Fuchs, Thomas et al.: Geschichte der Gemeinde Herisau. Herisau 1999, S. 288–290.

Hanhart, Rudolf: Biedermeiermalerei auf dem Land. St. Gallen 2012.

 

 

Tags:

Herisau, Schule, Lehrer, Hochzeit, Glückwunschteller

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