Zeitzeugnisse

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Titel:

Eine Hungertafel als Mahnmal

Thema: Wirtschaft

Ort: Hundwil    (Karte anzeigen)

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Datum: --.--.1825

Masse: 50 x 58,5 cm

Standort: Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen, Objekt 11811; Digitalisat: StAAR

Urheber/-in: Johannes Bartholomäus Thäler, Hundwil

Beschreibung:

Die von Johannes B. Thäler um 1825 geschaffene Hungertafel spannt gleich einem Bildcomic den Bogen von den Kornhändlern als Profiteuren über die von grosser Teuerung betroffenen Lebensmittelverkäufer bis hin zum wiederkehrenden Bauern- und Sennenglück. Nur wenigen Menschen blieb in vorindustrieller Zeit die Erfahrung einer Hungersnot erspart. Als schlimmste Hungerkatastrophe seit Menschengedenken hinterliess die Krisenzeit von 1816/17 unauslöschliche Spuren in der Erinnerung. Eines der  eindrücklichsten Zeugnisse für das Ausmass des Elends damals begegnet uns im Ölgemälde «Die grosse Theurung, und Hungersnoth, im Jahr 1817» des in Hundwil aufgewachsenen Malers Johannes Bartholomäus Thäler (1806–1850).
 

Geschichte:

Thäler gestaltete seine Hungertafel nach dem Vorbild der in Deutschland weitverbreiteten vierteiligen Bilderbögen von Vinzenz Zanna («Victualienpreise in dem Theurungs Jahre 1817») und Carl Hohfelder («Die theure Zeit vom Jahre 1816 auf 1817»). Detailreiche szenische Darstellungen des Warenverkaufs mit begleitenden Preistafeln veranschaulichen die unerhörte Teuerung der Hauptnahrungsmittel, darunter Brot, Fleisch, Getreide, Butter, Kabis und Kartoffeln. Die Bilderbögen schliessen mit einer Illustration der überwundenen Not im fruchtbaren Sommer 1817. An einem mit Garben voll beladenen Pferdewagen hängt ein Schild mit der Aufschrift: «Nun schenkt uns Gott auf theure Zeit | den Überfluss an dem Getraid, | so wird sich dann mit reichen Seegen, |der Hunger in dem Lande legen.»

Grenzenlos war das Elend im Appenzellerland. «Hier sah man Menschen auf den Strassen erliegen […] – hier sah man auch Menschen mit den Tieren weiden und Gras und Kräuter essen» (Scheitlin, Armenreisen, S. 309). Mehrere Tausend Menschen starben an den Auswirkungen des Hungers. Ein Vulkanausbruch in Indonesien hatte 1815 ein Jahr ohne Sommer zur Folge, so dass in grossen Teilen Mitteleuropas die Ernten ausfielen. Hierzulande verstärkte sich die Not noch, weil gleichzeitig das häusliche Textilgewerbe in einer Absatzkrise steckte (Scheitlin, Armenreisen, S. 451). Das Elend hob das soziale Leben aus den Fugen. Armut und Bettlerwesen nahmen zu; Wucher und kriminelle Handlungen vermehrten das Unglück.

Das Übermass der Not verlangte nach einer Erklärung. Hinweise auf natürliche und ökonomische Ursachen gaben keine befriedigenden Antworten. Überzeugender wirkten Deutungen, welche in der Katastrophe ein Strafgericht für sündhaften Lebenswandel erblickten und diese als Aufforderung zur Umkehr verstanden. Religiöse Schwärmer glaubten gar, in der Drangsal nicht nur einen Fingerzeig Gottes zu erkennen, sondern eine Ankündigung des nahenden Weltendes. Von der Heftigkeit des geistigen Erdbebens, das die grosse Hungersnot hinterliess, zeugen die zahlreichen Andenken, welche den überstandenen Schrecken für die nachfolgenden Generationen festhielten, um sie daran zu erinnern, dass das tägliche Brot keine Selbstverständlichkeit sei. Neben literarischen Schilderungen und individuell gestalteten Andenken dienten als Mahnmale vor allem grafische Blätter oder von Schreibern angefertigte Erinnerungszeichen, die als stumme Busspredigten gerahmt an Stuben- und Wirtshauswände geheftet wurden. Appenzeller Hunger- oder Teuerungstafeln bestehen meistens aus einem handgeschriebenen Text, welcher die unerhörten Lebensmittelpreise in der unseligen Zeit vermerkt und in unbeholfener Formulierung und eigenwilliger Orthographie von schrecklichen Vorkommnissen berichtet. Oft bekräftigen naiv ausgeführte Bildchen die Textbotschaft. Im Gegensatz zu den schlichten volkstümlichen  Andenken handelt es sich bei Thälers Ölgemälde um eine Auftragsarbeit, für die mehr als einige Kreuzer auszulegen war.

Autor: Louis Specker, Rorschach

Literatur:

Bayer, Dorothee: O gib mir Brot. Die Hungerjahre 1816 und 1817 in Wurttemberg und Baden. Ulm 1966 (Schriftenreihe des Deutschen Brotmuseums, 5).

Hanhart, Biedermeiermalerei; Hartinger, Walter: Teuerungstafeln zu den Hungerjahren 1816/17. In: Volkskunst 4 (November 1986).

Petzoldt, Leander. Dettmer, Hermann: Volkstumliche Kunst rund um den Bodensee. Friedrichshafen 1989.

Scheitlin, Peter: Meine Armenreisen in den Kanton Glarus und in die Umgebungen der Stadt St. Gallen in den Jahren 1816 und 1817, nebst einer Darstellung, wie es den Armen des gesammten Vaterlandes im Jahr 1817 erging. St. Gallen 1820.

Specker, Louis: Die grosse Heimsuchung. Das Hungerjahr 1816/17 in der Ostschweiz. In: Njbl 133 (1993), S. 9–42 und Njbl 135 (1995), S. 5–56.

Zollikofer, Ruprecht: Der Osten meines Vaterlandes oder Die Kantone St. Gallen und Appenzell im Hungerjahre 1817. Ein Denkmal jener SchreckensEpoche. 2 Bde. St. Gallen 1818–1919.

 

Tags:

Hundwil, Tafel, Hungersnot, Teuerung, Krise, Mahnmal, Ölgemälde, Lebensmittel

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