Zeitzeugnisse

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Titel:

Massnahmen zur Rettung von Erstickten, Erwürgten, Erfrorenen und Ertrunkenen

Thema: Leute

Ort: Trogen    (Karte anzeigen)

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Datum: 12.12.1776

Masse: 21 x 16,5 cm

Standort: Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, App 40 V

Urheber/-in:

Beschreibung:

Das Zeitzeugnis ist ein 8-seitiges Heft mit ausführlicher Beschreibung auf dem Titelblatt. Auf der unteren Bildhälfte des Titelblatts ist der Appenzeller Wappenbär dargestellt. Das Heft wurde von der Landsobrigkeit des Kantons Appenzell Ausserrhoden für die ganze Bevölkerung 1776 gedruckt. Sie wollte damit erreichen, dass jeder in der Lage war Erste Hilfe zu leisten, um Verunglückte retten zu können.

Das Dokument enthält ein Vorwort der Obrigkeit, im Hauptteil folgen die Anweisungen zur Ersten Hilfe für „Ertrunkene“, „Erwürgte“, „Erstickte“ und „Erfrorene“ und im letzten Abschnitt werden allgemeine Bestimmungen angeführt bei Zuwiderhandlung und zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen, die Erste Hilfe versäumen. Unter den vier Kapiteln „Von den Ertrunkenen“, „Von den Erwürgten“, „Bey erstickten Personen“ und „Betreffend die Glut und Kohlen die man in verschlossenen Gemächern anzündet“ werden die damals akzeptierten medizinischen Massnahmen vorgestellt:

I. "Von den Ertrunkenen“:

In diesem Kapitel wird angeführt, dass eine gemeinnützige Gesellschaft in Amsterdam seit wenigen Jahren schon 200 Menschenleben retten konnte, weil sie drei Schritte befolgte, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten: „1. muss die stillstehende, mit Schaum angefüllte Lunge gereinigt werden, 2. muss die Empfindung wiederhergestellt werden und 3. muss das Blut in Bewegung gesetzt werden.“ Zu diesen drei Schritten wurde angeordnet eine krumme Röhre zum Aufblasen der Lunge zu verwenden. Zum Aufblasen konnte auch der Blasebalg benutzt werden, wobei aber auf die Kopfstütze geachtet werden musste. Das Rollen auf einem Fass wurde nicht empfohlen. Wenn diese Variante nicht erfolgreich war, wurde zum „Taback-Elystier“ geraten: Hierbei führte man eine Röhre in den After des Patienten ein, legte auf die angebrachte Glutpfanne glühende Kohlen und Tabak und half mit dem Blasebalg kräftig nach, damit der Dampf der Glutpfanne in die Eingeweide gelangen konnte. Half auch diese Variante nicht, wurde der Aderlass empfohlen. Der Aderlass an der Halsschlagader war jedoch nur dem Chirurgen erlaubt, die Öffnung einer Ader am Arm gehörte zur Ersten Hilfe.

II. "Von den Erwürgten“:

Falls das Genick noch nicht gebrochen war, wurde ein Aderlass am Hals empfohlen, damit man von dort in die Luftröhre Luft einflössen konnte. Auch hier wurde das „Taback-Elystier“ für mehr Effizienz empfohlen.

III. "Bey erstickten Personen“:

Die erstickende Person sollte sofort an die frische Luft gebracht und deren Nasen, Augen und Schläfen mit starkem Essig oder einem anderen geistigen Wasser eingerieben werden. Sie musste in der Seitenlage gelagert werden. Nebst tödlichen Dämpfen wurden auch Essensreste als Ursache für das Ersticken angegeben. Wenn das der Fall war, wurde dem Patient bei kleinen Stücken ein Trunk (Milch mit süssem Mandel-Oliven-Lein-Levat- oder Nussmehl) verabreicht. Bei grossen Stücken musste eine Öffnung der Luftröhre vorgenommen werden.
In demselben Kapitel wird in einer Randnotiz der „Erfrorene“ erwähnt. Er sollte nicht sofort zum Feuer gelegt werden, sondern sein Leib mit Eis, Schnee oder kaltem Wasser eingerieben werden.

IV. "Betreffend die Glut und Kohlen die man in verschlossenen Gemächern anzündet“

Bei Rauchvergiftungen wurde angeordnet, Türen und Fenster zu öffnen, dem Patienten mit der „Taback-Elystier-Methode“ Luft einzuflössen und ihn vor allem immer wieder mit Wasser zu übergiessen.

Geschichte:

Das vorliegende Zeitzeugnis zum Unterricht für Erste Hilfe wirft indirekt die Frage nach dem Suizid auf. Er wird zwar nicht erwähnt, spielt aber angesichts der thematisierten Verletzungen eine Rolle. Im 18. Jahrhundert wurde der Suizid als Sünde verurteilt. Die christliche Lehre, wie sie von der Kirche verbreitet wurde, verlangte alle Anstrengungen, um das heilige und einzigartige menschliche Leben zu schützen. Bis ins 19. Jahrhundert war Suizidopfern die Bestattung auf dem ordentlichen Friedhof untersagt. Wie das Beispiel eines Innerrhoder Mannes aus dem Jahr 1734 zeigt (siehe Zusatztexte), wurde sein Vermögen nach seinem Suizid der Staatskasse vermacht, was für die Angehörigen eine zusätzliche Belastung darstellte. Im 19. Jahrhundert änderte sich diese Situation, da sich die aufklärerischen Ideen durchgesetzt hatten und dem einzelnen Menschen das Recht zusprachen über sein Leben frei verfügen zu können, ohne von der Kirche und der Gesellschaft verurteilt zu werden.

Autorin: Nina Sonderegger, Speicher

Literatur:

Beispiel früherer Behandlung der Selbstmörder. Mit einer darauf Bezug habenden Rechnung aus Innerrhoden (1734). In: Appenzellisches Monatsblatt. St. Gallen, Trogen 1828, S. 168-171.

Kästner, Alexander: Suizid in der Frühen Neuzeit. In: Technische Universität Dresden. http://rcswww.urz.tu-dresden.de/~frnz/Suizid_FNZ/Eigene_Arbeiten_Aufsatz_Mitleid_revidiert_Druckversion.htm (03.08.2011)

Marti, Michael: Tot geschwiegen. Das geläufige Bild des Appenzellers hat eine Schattenseite, über die man nicht redet. In: Tages Anzeiger Magazin Nr. 35. Zürich 1996, S. 20-29.  

Obrigkeitlicher Beschluss, hinsichtlich der Hinterlassenschaft der Selbstmörder. In: Appenzellisches Monatsblatt. St. Gallen, Trogen 1826, S. 202.

Zusatztexte:

Bespiel früherer Behandlung der Selbstmörder, mit einer darauf Bezug habenden Rechnung aus Innerrhoden. (1734.)

Die politischen Unruhen in den 1730er Jahren hatten, der harten und entehrenden Strafen wegen, mit denen viele Personen betroffen wurden, sehr viele Selbstmorde zur Folge. Die Sache kam in der Synode zur Sprache, und von da aus ein Antrag vor Neu= und Alt=Räthe, die den 8. Mai 1738 nachstehenden Schluss fassten: „In Ansehung denen „Selbstmördern, wurde auf Vorstellung eines Synodi nach „langem Deliberiren erkennt: Dem sammtlichen Ministe-„rium aufzutragen, an einem gewüssen Sonntag wider diesen „schröcklichen Greuel ziehlende Materj, tüchtige Predigten „zu halten. Anbey die Vermehrung der Straff künftighin, „ohne Ansehen der Person und Geschlechter, solche todte „Körper Tags zu Staub und Aschen zu verbrennen, von „den Kanzlen zu eröffnen.“ Von der zu jener bis auf die neueste Zeit herab üblichen, gänzlichen oder theilweisen, Con=fiskation der Hinterlassenschaft solcher Unglücklichen für den Landseckel, wodurch die unschuldigen und ohnedies nieder=gebeugten Gatten, Kinder oder andere Verwandte ihres Erbes beraubt wurden, hat bereits das M. Bl. (Dez. 1826) Meldung gethan. […]

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