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Titel:
Der Stuhl der Frauenlandsgemeinde
Thema: Politik
Ort: Trogen (Karte anzeigen)
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Datum: 26.04.1987
Standort: Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden
Urheber/-in: Fricker, Hans Ruedi
Beschreibung:
Weissbemalter Holzstuhl mit Rücklehne und leicht geschwungenen Beinen. Dieser echte Stuhl ist eine Anspielung auf den sogenannten "Stuhl" der Landsgemeinde. Im Kanton Appenzell Ausserrhoden befanden sich auf diesem "bis 1858 [...] nur der regierende Landammann, der Landweibel und der Landschreiber. Die Stukkatur im Treppenaufgang des Pfarrhauses in Trogen zeigt dies deutlich, auch Gabriel Walser spricht von drei Herren auf dem Stuhl. Für die übrigen Landesbeamten (d.h. Regierungsräte) und die Mitglieder des Grossen Rates, der damals aus den Gemeindehauptleuten bestand, war ein kleineres Podium bestimmt, das sich in Hundwil auf der oberen Seite des Platzes (‚der obere Stuhl’), in Trogen in der Nähe des Brunnens befand. Ein Protokoll aus den 1770er Jahren meldet die Aufforderung, dass sich zu gewohnter Zeit Landammann, Landweibel und Landschreiber auf den Stuhl, die übrigen Ratsmitglieder an die Lehne beim Brunnen begeben sollen. Mit der Verfassung von 1858, welche die Regierung von 10 auf 7 Mitglieder reduzierte und eine andere Zusammensetzung des Grossen Rates brachte, wurde ein einziger Stuhl geschaffen, auf dem der ganze Regierungsrat Platz fand." (Schläpfer, Landsgemeinde, S.21.)
Fotografie des Landsgemeindeplatzes in Trogen: Frauenlandsgemeinde vom 26.4.1987. Im Vordergrund Musikgruppe mit Minstrels-Musiker Dani Fehr am Hackbrett, im Hintergrund eine Menschenmenge, die um den weissen Stuhl versammelt ist. Auf dem Stuhl steht eine Frau.
Geschichte:
Nach jahrelangen Auseinandersetzungen um die politische Gleichstellung der Frau wurde am 7. Februar 1971 das Stimm- und Wahlrecht für Frauen auf Bundesebene angenommen; Appenzell Innerrhoden und Ausserrhoden hatten beide abgelehnt. Die meisten Kantone zogen kurz darauf mit der Einführung des Frauenstimmrechts auf kantonaler und kommunaler Ebene nach.
Im Kanton Appenzell Ausserrhoden war zu dieser Zeit die Landsgemeinde das höchste politische Gremium der legislativen Gewalt auf kantonaler Ebene. Die Einführung des Frauenstimmrechts auf kantonaler Ebene hätte demnach zur Folge gehabt, dass Frauen auch an der Landsgemeinde hätten teilnehmen dürfen. Viele dachten, dass Frauen an der Landsgemeinde – der Vollversammlung, welche nach Worten des ehemaligen Nationalrats Herbert Maeder etwas Mystisches zum Ausdruck brachte – einen zu grossen Traditionsbruch darstellen würden. Die Umfrage „ond/oder“ 1986 zum Thema Frauenstimmrecht zeigte denn auch, dass im Ausserrhodischen das kantonale Frauenstimmrecht nicht grundsätzlich abgelehnt wurde, sondern dass man mit der Einführung des Frauenstimmrechts einen Verlust oder eine Veränderung der Landsgemeinde befürchtete. Während des ganzen Prozesses setzten sich verschiedene Personen wie z.B. Elisabeth Pletscher (1908–2003) für die Einführung des Frauenstimmrechts ein – langfristig mit Erfolg, wie es sich am 30. April 1989 an der Landsgemeinde in Hundwil zeigte: Das Wahl- und Stimmrecht für Frauen wurde dort in erster Ausmarchung angenommen.
Ende März 1987 fanden sich in zahlreichen Briefkästen im Kanton Appenzell Ausserrhoden Buttons mit der Aufschrift „Frauenlandsgemeinde, 26.4.1987, 11 Uhr“ von einem anonymen Absender. Initiant war, wie sich später herausstellte, der „Ida Schläpfer“-Schöpfer Hans Ruedi Fricker. Da die „richtige“ Landsgemeinde genau am selben Tag in Hundwil stattfand, war sich die Presse nicht sicher, ob es sich bei der Frauenlandsgemeinde nun um einen Scherz oder eine tatsächlich geplante Aktion handelte. Unter dem Motto »Der „Knopf“ ist aufgegangen« rief kurz darauf Irene Jaeggi als „eine von vielen für die Frauenlandsgemeinde“ dazu auf die Frauenlandsgemeinde in Trogen tatsächlich zu begehen. 200 Frauen, Kinder und Männer fanden sich dann auf dem Landsgemeindeplatz ein, und auf einem improvisierten „Stuhl“ konnte das Wort ergreifen, wer etwas zu sagen hatte. Die Gelegenheit wurde rege genutzt und mehrmals wurde betont, dass die Frauen nicht beabsichtigten, die Landsgemeinde abzuschaffen, sondern die eingerosteten Institutionen neu zu beleben. Nach einer Stunde war die erste Frauenlandsgemeinde dann zu Ende, politisch zwar (vorerst) ohne Konsequenzen, aber doch mit der gewünschten Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. So hatte nämlich nicht nur die Kantonspolizei das Geschehen beobachtet und fotografiert, auch Medienvertreter aus der Schweiz und aus Österreich waren zugegen.
Autorin: Katharina Merian, Speicher
Chronologie:
1954 fakultatives Frauenstimm- und Wahlrecht in kirchlichen Belangen (d.h. die Gemeiden der evangelisch-reformierten Landeskirche hatten die Möglichkeit, dieses zu gewähren).
1967 wurde das Frauenstimmrecht bindend in der Landeskirche eingeführt.
Am 7.2.1971wurde das Frauenstimmrecht auf Bundesebene eingeführt.
1986 wurde die „Ond/Oder“-Umfrage zur Einführung des Frauenstimmrechts im Kanton Appenzell Ausserrhoden unter Dr. Otto Schoch erhoben.
Am 30.4.1989 wurde an der Ausserrhoder Landsgemeinde in Hundwil die Einführung des Frauenstimmrechts angenommen.
Im Jahr 1991 wurde das Frauenstimmrecht im Kanton Appenzell Innerrhoden nach Bundesgerichtsentscheid eingeführt.
Literatur:
Fricker, H.R.: Erobert die Wohnzimmer dieser Welt! http://erobertdiewohnzimmer.net (20.8.2012).
Schläpfer, Walter: Die Landsgemeinde von Appenzell Ausserrhoden. Herisau 1975, S. 21 (Das Land Appenzell 3).
Voegeli, Yvonne: Frauenstimmrecht. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 5.1.2006. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10380.php (1.9.2010).
Widmer, Margrith: Ida Schläpfer – Kult, Kultur und Kommunikation. In: Bräuniger, Renate (Hrsg.): FrauenLeben Appenzell. Beiträge zur Geschichte der Frauen im Appenzellerland, 19. und 20. Jahrhundert. Herisau 1999, S. 376-383.
Zatti, Kathrin Barbara: Pletscher, Elisabeth. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 11.2.2010. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D45555.php (1.9.2010).
Zusatztexte:
DER „KNOPF“ IST AUFGEGANGEN!
Die Mehrheit der Landsgemeindsmannen will die eigenen Frauen nicht im Ring. Die Mehrheit der Frauen und Männer Appenzell Ausserrhodens will das Frauenstimmrecht eingeführt haben.
Ebenso klar wie das Verdikt in Trogen 1985 ist auch das Ergebnis der Befragung der Kommission Schoch 1986. In dem langen Jahr bis zur diesjährigen Landsgmeinde in Hundwil hat niemand und nichts an diesen eingefrorenen Mehrheiten gerüttelt. Die Argumente dies- und jenseits der Frage sind bekannt, ausgewalzt, widerlegt und – erschöpft.
Ob die Appenzeller Landsgmeinde ihr ‚Minderheitenproblem’ doch noch aus eigener Kraft zu lösen fähig ist oder das Frauenstimmrecht durch Diktat aus Bern aufgesetzt wird, ist eine Frage der Zeit. Wieviel Zeit?
Die Landsgemeinde der Zukunft, mit Frauen, wird so oder so – darüber sind sich immerhin alle Männer und Frauen einig – eine veränderte, eine andere sein. Denn was die ‚Mannen’ so unvorstellbar finden, ist die Mitwirkung von Frauen an einer hochgradig ritualisierten Ausdrucksform des Volkswillens, deren Symbolik – Säbel und Schwur – und deren Grundlage – Vergangenheitsbeschwörung und undemokratisches Ausschlussverfahren – tatsächlich und zu Recht dem politischen Diskurs der Frauen nicht entspricht. Die gemeinsame Landsgemeinde stünde ideell im Zeichen der Offenheit, im Gegensatz zur gegenwärtigen. Diese ist durch die unverleugbare Nötigung zur fortgesetzten Abwehr heute unzweifelbar aggressiv und erstarrt.
Politisieren ist eine Form des zwischenmenschlichen Austauschs. Dazu bedarf es der Sprache, des Disputs. Die Frage liesse sich durchaus stellen, inwieweit ein Stammesritual komplexe Sachgeschäfte, wie sie dieses Jahr in Hundwil zur Abstimmung anstehen, adäquat behandeln kann. Ein Ritual, das in erster Linie darauf aus ist die Macht innerhalb einer bevorzugten Gruppe zu regeln und das Selbstgefühl eines eingegrenzten Teils der Bevölkerung auf Kosten des anderen Teils zu stärken.
WARUM sollen wir Frauen wieder einmal den Landsgmeindstag verärgert, beleidigt, verständnislos, gönnerhaft, sarkastisch oder gleichgültig verstreichen lassen?
WARUM nicht diese noch kurze Frist des Schwebezustands zwischen noch praktizierter Enteignung der gleichen Volksrechte für alle – und der zukünftigen gemeinsamen Landsgemeinde benutzen, um eine
F R A U E N L A N D S G E M E I N D E
zu feiern? Nach unserem eigenen, selbstgeschaffenen Muster und zu unserem Vergnügen: unstrukturiert, offen, lebendig und vor allem – spannend. Ohne Programm, aber mit einem Haufen Anliegen. Vergessen wir doch auch nicht, dass am Sonntag sich die Tschernobyl-Katastrophe jährt!
Am 26. April 1987, dem Landsgemeinde-Sonntag, treffen sich alle selbstbewussten, unerschrockenen, betroffenen und trotzalledem noch immer vergnügten Frauen um 11.00 Uhr auf dem Dorfplatz in Trogen,
o h n e irgendjemanden a u s z u s c h l i e s s e n, weder
sympathisierende Männer, noch Kinder, noch Zugezogene, zu einem Gespräch und zu einem Fest. Nach dem Treffen auf dem Platz reden wir in einem Lokal weiter. Alle sind willkommen, die unterschiedlichsten Meinungen sind gewiss erwünscht!
Für die Frauenlandsgemeinde
Eine von vielen:
Irene Jaeggi
WER HAT EINEN ‚KNOPF’ IN DER LEITUNG?
P-S. Um eine mögliche Angst vor dem Männerzorn zu besänftigen, sollten wir uns Frauen und Männer doch noch einmal klar vor Augen führen, dass nicht wir – mit unserem legitimen Anspruch auf Mitbestimmung – mit dem Rücken zur Wand stehen!
Tags:
Politik, Frauenstimmrecht, Landsgemeinde, Trogen, Schläpfer Ida, Fricker Hans Ruedi, Stuhl, Protest, Frauenlandsgemeinde, Pletscher Elisabeth
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