Zeitzeugnisse

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Titel:

Zucht und Ordnung im Armenhaus

Thema: Politik

Ort: Schwellbrunn    (Karte anzeigen)

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Datum: 01.01.1934

Masse: 38 x 24,7 cm

Standort: Staatsarchiv Appenzell Ausserrhoden, Me.03-09

Urheber/-in: Gemeinderat Schwellbrunn

Beschreibung:

Hausordnung mit 16 Artikeln für das Armenhaus Schwellbrunn. Sie wurde vom Schwellbrunner Gemeinderat am 30. Dezember 1933 genehmigt und trat am 1. Januar 1934 in Kraft.
 

Geschichte:

Die neue Hausordnung des Armenhauses in Schwellbrunn wurde am 1. Januar 1934 für alle Insassen gut sichtbar aufgehängt. Sie bezeugt das strenge Regime des Hauses: Für die Arbeitsfähigen galt im Sommer um 5 Uhr Tagwacht, im Winter bei Sonnenaufgang, tagsüber war Arbeit im hauseigenen Landwirtschaftsbetrieb vorgesehen. Ausgang gab es einmal im Monat, für Besuche oder Briefkorrespondenzen war die Erlaubnis des Hausvaters nötig. Wer gegen Zucht und Ordnung des Hauses verstiess, sich etwa betrank oder faul war, wurde mit «Schmälerung der Kost» oder mit «Arrest bei Wasser und Brot» bestraft.

Das Armenhaus Schwellbrunn wurde 1807 gegründet, als die Zahl der Armen in der Gemeinde stark anstieg. Durch die grösser werdende Anzahl von Armen befürchtete man einen Zerfall der Moral in der Gesellschaft. Da die Gemeinden aber für die «Aufrechterhaltung von Sittlichkeit und Ordnung» zu sorgen hatten, waren sie verpflichtet, «ihre armen Angehörigen, […] zu unterstützen». Nach 1800 richteten daher alle Ausserrhoder Gemeinden Häuser für verarmte Bürger ein. Die Sorge für die Armen war für kleine Gemeinden wie Schwellbrunn eine grosse Last. Aus diesem Grund wurde 1856 ein freiwilliger Armenverein gegründet, der die Gemeinde in dieser Aufgabe finanziell unterstützte.
Zum Armenhaus Schwellbrunn gehörte seit der Gründung ein Landwirtschaftsbetrieb und seit 1856 ein Waisenhaus. Alle Insassen, Kinder und Erwachsene, mussten nach Möglichkeit mitarbeiten.

Die Hausordnung von 1934 bestand mit wenigen Änderungen bereits seit 1900 und machte gleich im ersten Artikel klar, dass jegliches Eigentum der Eintretenden an die Gemeinde überging, bevor nicht alle Unkosten zurückbezahlt waren. Beim Eintritt wurde man ausserdem zuerst von Kopf bis Fuss gewaschen und dann «soviel als möglich zum Besuche des öffentlichen Gottesdienstes» angehalten. In den 1930er-Jahren stieg die Zahl der Arbeitslosen rasant an. Der Rückgang der Stickereiindustrie und die Weltwirtschaftskrise führten dazu, dass im ganzen Kanton nur noch 10 % der in Heimarbeit tätigen Sticker beschäftigt werden konnten. 1933 zählte man in Schwellbrunn 246 Unterstützungsfälle, einige davon lebten im Armenhaus, andere in oder ausserhalb der Gemeinde. Wer arbeitslos oder arm wurde, war auf die Unterstützung der Gemeinde angewiesen, da es noch keine obligatorischen Sozialversicherungen gab. In Schwellbrunn wurde zwar 1926 die «öffentliche Arbeitslosenversicherungskasse» gegründet. Diese war jedoch nicht obligatorisch und kam nur für Mitglieder auf, die «unverschuldet arbeitslos geworden sind». Armut wurde noch immer stark mit persönlicher Schuld und eigenem Versagen verbunden.

Auch im Armenhaus Schwellbrunn wurden keine faulen oder «unsittlichen» Insassen geduldet. In der Hausordnung von 1934 wurden Fleiss, Pünktlichkeit und Sauberkeit gross geschrieben. Alkohol war ebenso tabu wie das Betteln – es hatte Zucht und Ordnung zu herrschen. Nur so, dachte man, könne der Sittenzerfall aufgehalten werden, der aufgrund der grassierenden Armut befürchtet wurde. Erst nach dem 2. Weltkrieg setzte sich die Idee durch, dass Arme keine Schuld an ihrer Situation tragen. Mit der Gründung von Sozialversicherungen, wie der AHV 1948 und der obligatorischen Arbeitslosenversicherung 1977, waren ältere und arbeitslose Menschen nicht mehr auf die Unterstützung der Gemeinde angewiesen. Das Armenhaus in der Risi wird seit 1950 als Heim für Betagte geführt.

Autorin: Mirjam Hoesli, Winterthur

Literatur:

Quellen:
GSB-A.1-03-01-001, Armenhausreglemente von 1900 und 1927.

GSB-B.1-03-01-038, Statuten für die öffentliche Arbeitslosenversicherungskasse der Gemeinde Schwellbrunn 1926.

Kantonsverfassung vom 15. Oktober 1876. URL: http://www.verfassungen.de/ch/appenzell/ar-verf76-i.htm (27.06.2012).

Literatur:
Altherr, Jakob: Schwellbrunn. Gemeinde-Chronik von der Vorzeit und der Zeit von 1648–1997. Schwellbrunn 1997.

Meier Kressig, Marcel: Armutspolitik im Wandel der Zeit. Balgach 2003. URL: http://www.socialia.ch/Armutspolitik.pdf (27.06.2012).

Schläpfer, Walter: Appenzeller Geschichte. Bd. 2: Appenzell Ausserrhoden von 1597 bis zur Gegenwart. Herisau, Appenzell 1972.

Stiftung Risi (Hrsg.): 200 Jahre Risi in Wort und Bild 1807–2007. Schwellbrunn 2007.

 

Tags:

Armut, Schwellbrunn, Sozialwesen, Hausordnung, Armenhaus

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