Zeitzeugnisse

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Titel:

Evangelisch-reformierte Arbeitsmoral

Thema: Leute

Ort: Herisau    (Karte anzeigen)

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Datum: --.--.1835

Masse: 40,0 x 49,0 cm

Standort: Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, KB-000049/301

Urheber/-in:

Beschreibung:

Das Plakat „Haus=Segen. Goldene Haushaltungs-Sprüche“ wurde zwischen 1830 und 1840 in Herisau gedruckt. Der Schriftzug Haus=Segen ist durch eine Wanne mit zwei daraus in Blumen aufsteigenden Engeln unterbrochen. Der Spruch im Titelfeld erläutert sinngemäss die altbekannte Redensart„Jeder ist seines Glückes Schmied“.

Folgende Themen sprechen die 13 Ratschläge und Lebensweisheiten auf dem Plakat an: Religion, Gesundheit, Geld, Freundschaft, Nachbarschaft, Familie und Heimat. 1) Der Gottesdienst allein reicht nicht aus, die Frömmigkeit muss auch zu Hause gelebt werden. 2) Der Sturz vom hohen Ross tut mehr weh, als wenn man klein anfängt. Im Ratschlag 3) ist das heute bekannte Sprichwort „Wer den Fünfer nicht ehrt, ist des Frankens nicht wert“ in der Währung der 1830er Jahre ausgedrückt: „Wer den Kreuzer nicht in Ehren ha(e)lt, gelangt nicht zum Gulden“. 4) Sauberkeit und Ordnung sind die Wahrzeichen einer echten Hausfrau. 5) Grund für den Besuch beim Arzt oder bei der Apotheke sind einzig das Unverhältnis zwischen Arbeit und Ruhe, zwischen Freude und Leid, zwischen Speis und Trank. Symbolisch wird im Ratschlag 6) auf einen Zehr- Not- und Ehrenpfennig eingegangen mit der Erkenntnis, dass ein Ehrenmann mehr ist als ein „Geldmann“. 7) Soll man alles direkt bezahlen und keine Schulden machen. 8) Wird davor gewarnt, jemandem eine Bürgschaft zu gewähren. 9) Soll man mit Grosseinkäufen mehr Geld sparen können, als mit mehreren kleineren Einkäufen. 10) Es ist es nicht wert, das Geld ausserhalb des Hauses für Spiele, Saufen und Essgelage auszugeben. 11) Man soll ein gutes Verhältnis zu seinen Nachbarn pflegen, ohne einander zu nahe zu kommen. Im Ratschlag 12) wird wiederum auf das Prinzip verwiesen, dass Jeder und Jede für das eigene Glück verantwortlich sei.** 13) Mit dem Satz „Man kann das Geld alle Tage gebrauchen, aber nicht alle Tage haben“, wird dem Leser ans Herz gelegt, sein überschüssiges Geld besser verzinsen zu lassen, als alles auf einmal auszugeben.

** Die von diesem Gedanken abgeleitete bekannte, hier im Titelfeld zitierte Redensart „Jeder ist seines Glückes Schmied“ basiert letztlich auf reformatorischem Gedankengut: "Mensch, hilf dir selbst, so hilfet Gott mit." (= ein Ausspruch des lutherischen Dichters Justus Georg Schottel 1612-1676) 

Geschichte:

Der Inhalt des Plakats „Haus=Segen. Goldene Haushaltungs-Sprüche“ spiegelt die bürgerlichen Ideale im reformierten Appenzellerland wieder zur Zeit der 1830er Jahre, der Zeit der beginnenden Industrialisierung in der Schweiz.  Durch die Erziehung sollten die Kinder in Fleiss, Arbeitsamkeit, Ordnung und Tüchtigkeit unterrichtet werden. Das Plakat führt alle Lebensweisheiten auf, die zum rechtschaffenen Lebensstil der reformierten bürgerlichen Gesellschaft gehören.

Diese Lebensregeln sind ein typisches Produkt der Reformation, welche mit Luthers Schriften 1521-46 ihren Anfang nahm. Verworfen wurden in der Folge u.a. Beichte und Absolution (Sündenvergebung) durch den Priester, das Klosterleben, das Fasten, die Heiligenverehrung, die lateinische Messe. Während die lutherische Lehre vor allem auf das Gebiet von Deutschland, Oesterreich und Skandinavien beschränkt blieb, entwickelte sich in der Schweiz durch Zwingli (Zürich) und Calvin (Genf) eine radikalere Richtung der Reformation,  welche sich über Westeuropa bis nach Nordamerika ausbreiten konnte. Dieser „Calvinismus“ hatte vor allem einen grossen Einfluss auf das  Wirtschaftsleben. „Calvinismus“ gilt somit als Oberbegriff für verschiedene Kirchen: die evangelisch-reformierte, die Quäker, Baptisten, Presbyterianer u.a. Sie vereinfachten radikal die bisherige Liturgie, verwarfen jede Art von bildlicher Darstellung in der Kirche und sogar die Kirchenmusik. Uebrig blieb ein reiner Predigtgottesdienst mit Bibelauslegung, Gebet und gelegentlichem Abendmahl in meist kahlen Räumen, der von keinem Ritual gestört werden sollte. Die Religiosität wurde somit radikal verweltlicht:  Gottgefällig war nicht mehr die Einhaltung vieler kirchlicher Gebote und Rituale wie im Katholizismus, sondern ein bescheidenes, arbeitsames Leben im Alltag (vgl. Regel 1), Sparsamkeit und Aufrichtigkeit, Ablehnung von Luxus. Davon zeugen die vielen Regeln, die sich ums Geld drehen.

Verschiedene Theoretiker (z.B. Max Weber) sehen einen klaren Zusammenhang zwischen Calvinismus und früher Industrialisierung in calvinistischen (reformierten) Gebieten, weil hier durch Sparsamkeit und Ablehnung des Luxus (teure Kleider, Kunstwerke) mehr Investitionskapital zur Verfügung stand. 

Autoren: Hans Georg Kasper, Trogen und Nina Sonderegger, Speicher

Literatur:

Der Klassiker:   Weber, Max. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. München 1920. 9.Auflage 1988

Speziell zur Schweiz:    Schnyder Caroline. Reformation. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom  12.02.2013. URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D13328.php 

Jehle, Frank. Du darfst kein riesiges Maul sein, das alles gierig in sich hineinfrisst und verschlingt.  Freiburger Vorlesungen über die Wirtschaftsethik der Reformatoren Luther, Zwingli und Calvin. Basel 1996                                                                                                                                                       

                                           

Transkription:

Früchte und Blumen sind Jedem beschert,
Der eifrig übet, was Weisheit ihn lehrt.

Was bringt uns wohl schönern Frieden, Haus=Segen. Als frei am eignen Glück zu schmieden?

Goldene Haushaltungs-Sprüche.

[linke Blatthälfte]

Vertrauet auf Gott und gehet fleissig im Gebet mit ihm um.
Es muss kein Tag voru(e)bergehen, da Ihr nicht wenigstens ein Mal recht inbru(e)nstig und anda(e)chtig mit Euerm himmlischen Vater redet; aber einsam und ganz in der Stille. Wer das thut, der wird fromm und gut werden; wird gegen alle Menschen liebreich werden; wird nie im Unglu(e)ck verzagen. – Es ist recht, dass Ihr den o(e)ffentlichen Gottesdienst besuchet; aber damit ist’s nicht allein gethan: Ihr mu(e)sst in Euerm Hause bei Gott wohnen.

Fanget nicht zu hoch an.
Das ist ein Unglu(e)ck fu(e)r neue Haushaltungen, wenn sie vornehm und bequem anfangen. Dann wollen sie es so, fortsetzen und es geht am Ende u(e)ber ihre Kra(e)fte. Wer klein anfa(e)ngt, kann gross aufho(e)ren; wer gross anfa(e)ngt, kann wohl kleiner, selten gro(e)sser werden. Die Jugend kann leicht entbehren; denn sie hat Kraft in sich; die alten Jahre brauchen aber Nachhu(e)lfe von aussen her. Wer klein anfa(e)ngt, von dem fordert man wenig; wer vornehm thut, von dem verlangt man Vornehmes. Scho(e)nes Hausgera(e)th, scho(e)ne Kleider, neben einem leeren Geldsack, sind ein vergoldetes Kreuz u(e)ber dem Grabe des ha(e)uslichen Wohlstandes. Es macht mehr Ehre, wenig scheinen und viel sein, als wenig sein und viel scheinen. So lernet denn von der ersten Stunde an, mit Wenigem vorlieb nehmen und viel zuru(e)cklegen. Nur Der ist reich, der weniger braucht, als er hat.

Arbeit erwirbt nur halbes und Sparen nur halbes Vermögen, aber Arbeit und Sparen erwirbt ganzes.
Einerlei Arbeit bringt gleichen Lohn, aber bessere Arbeit bessern Lohn. Wer nicht bei der Arbeit ta(e)glich etwas Neues lernt, um sie vollkommener zu machen, der bringt’s nicht weiter. Der Kopf muss denken, wenn die Ha(e)nde schaffen. Eitel ist des Mannes That, ha(e)lt die Hausfrau nichts zu Rath. Die Frau kann im Fu(e)rtuch mehr aus dem Hause tragen, als der Mann mit dem Wagen hineinfu(e)hren. Darum muss man kleine Ausgaben mehr scheuen, als die grossen; denn die grossen kommen selten und bei denselben rechnet man, die kleinen kommen aber alle Tage und man rechnet dabei nicht immer. Wer den Kreuzer nicht in Ehren ha(e)lt, gelangt nicht zum Gulden.

Ordnung im Haus ist schon halbes Sparen.
Ordnung im Haus ist das beste Wahrzeichen einer rechten Hausfrau. Wo jedes Gescha(e)ft seine bestimmte Zeit, jede Sachei hren bestimmten Platz hat; wo in Stube, Ku(e)ch’ und Stall keinerlei Unreinigkeit, an Kleidern kein Loch und Unflath ist, da verwandeln sich nach Jahresfrist die rothen Kreuzer in Dublonen. Was man sauber ha(e)lt, bewahrt sich lange; wo im Kleinen geflickt und ausgebessert wird, gibts keinen grossen Schaden. Unreinlichkeit ist die a(e)rgste Verschwenderin.

Die Hauptartikel der Haushaltung sind Geld, Zeit und Gesundheit.
Vor dem Gelde zieht man den Hut ab. Wer aber seine Zeit verschwendet, verliert das Geld, das er hat und haben ko(e)nnte. Wer aber seine Gesundheit nicht in Acht nimmt, der verliert am Ende Zeit und Geld zusammen. Darum hu(e)tet Euch vor dem Krankwerden. Der gerade Weg zur Apotheke und zum Doktor heisst Unma(e)ssigkeit in Arbeit und Ruh, in Freud und Leid, in Speis und Trank.

In jedem guten Hause sollen drei Pfennige sein.
Diese drei Pfennige heissten: der Z e h r=, N o t h= und der Ehrenpfennig. – Der Z e h r p f e n n i g ist fu(e)r die ta(e)gliche Ausgabe. Gebet aber nie den letzten aus, Ihr wisset nicht, welches Unvorhergesehene eintritt. – Der N o t h p f e n n i g muss fu(e)r den Nothfall daliegen, aber tastet ihn nicht ungezwungen an. Wer ihn ohne Noth verthut, dem kommt die Noth folgenden Tags zur Hausthu(e)re herein. – Der E h r e n p f e n n i g ist ein ko(e)stlich Gut; man muss ihn haben, wenn Ehre und Ansta(e)ndigkeit eine Ausgabe fordern. Die Achtung der Menschen erwirbt Liebe und Vertrauen. Kredit ist mehr werth als Geld, und ein Ehrenmann mehr als ein Geldmann.

Kaufet nichts, was Ihr nicht gleich zahlen könnet.
Kaufen und borgen macht hintennach Sorgen! – Wer Waaren nimmt, ohne gleich zu zahlen, muss dem Kaufmann Zins vom Geld und Schreiberlohn geben, ohne es zu erfahren, und ist am Ende vom Jahr mehr

[rechte Blatthälfte]

schuldig, als er wusste. Richtige Rechnung erha(e)lt gute Freundschaft. Wer Zinsen zahlen muss, hat ta(e)glich unsichtbare Sa(e)fte am Tische, die mit aus der Schu(e)ssel essen.

Leihet selten, und werdet niemals Bürgen für Andere.
Leihen macht Freunde, Wiederfordern Feinde. Leihet selten und nur dann, wenn  Ihr Euere Leute wohl kennet. Habt in Geldsachen lieber mit Fremden, als mit Verwandten und Freunden zu schaffen. Denn Jene werdet Ihr Euch zu Freunden machen ko(e)nnen, Diese aber nur am Ende zu Feinden. – Schenket lieber etwas, als dass Ihr Bu(e)rge werdet. Die Bu(e)rgen thut man wu(e)rgen, wenn’s an’s Zahlen geht. Die Bu(e)rgschaft kostet anfangs nur ein leichtes Wort, zuletzt das ganze Vermo(e)gen. Durch Bu(e)rgschaftsverpflichtungen sind schon gute Haushaltungen und ganze Gemeinden bettelarm geworden.

Kaufet für die Haushaltung, wo es irgend geht, im Ganzen an, nicht bloss, was Ihr für den Tag braucht.
Denn wer auf eine Zeit Vorrath kauft, hat an seiner Waare den vollen Gewinn des Kra(e)mers und Hausfirers. Wer im Ganzen einkauft und nicht lothweis, erha(e)lt bessere Waare wohlfeiler, zumal, wenn er die Zeit niedriger Preise benutzt. Wer Vorrath fu(e)r ein halbes Jahr hat, muss damit hausen, als fu(e)r ein ganzes Jahr. Wer das nicht kann, der muss sich durch Kaufleute und Kra(e)mer bevogten lassen, die ihm ta(e)glich mit Elle und Loth zumessen. Arme Leute werden durch das Einzelnkaufen a(e)rmer, und reiche Leute durch das Vorrathkaufen reicher.

Wer für die Freude ausser dem Hause wenig zahlt, zu dem kehrt sie unentgeltlich ein.
Nichts ist wohlfeiler als Vergnu(e)gen. Wer will haben gut Gemach, der bleibe unter seinem Dach. Nicht die Freude ist theuer, sondern Spiel, Sauf und Frass. Wer draussen gerne gross thut, muss daheim klein thun. Wer gerne ausser em Hause Geld verthut, ist nicht sein eigener Herr, sondern steht in fremder Leute Dienst.

Gute Nachbarn helfen uns sparen.
Wer gute Nachbarschaft ha(e)lt, hat gute Wa(e)chter fu(e)r sein Haus. – Dienet den Nachbarn, wo Ihr ko(e)nnet, aber sprecht sie selten oder nie um Dienste an: so bleiben sie Euere Schuldner. Wenn des Nachbars Haus brennt, so gil’ts Euch auch. Machet bo(e)se Nachbarn durch unvera(e)nderliche Gu(e)te freundlich; aber mit freundlichen Nachbarn werdet nie allzu vertraulich, so bleiben beide gut. – Fraget nie, worin der Nachbar mehr Aufwand treibe als Ihr, sondern worin er mehr spare. – Geht nie dem Nachbar durch’s Fenster; aber lebet so, als wa(e)ren Euere Mauern durchsichtig.

Wer Glück im Hause haben will, muss nichts dem Glück überlassen.
Was Ihr erwerbet und sparet, das habt Ihr gewiss; was Ihr vom Glu(e)ck e r w a r t e t, das steht Ihr im Begriff zu v e r l i e r e n. – Wer sein Glu(e)ck nicht selbst macht, dem macht’s keiner. Ein baarer Gulden im Sack ist besser, als ein Lotterieloos mit Hoffnung auf tausend Gulden. Es spielen sich eher Zehn arm als Einer reich. Prozesse sind auch Glu(e)cksspiele. Glaubet mir, ein Verlust bei freundschaftlichem Vergleich ist vortheilhafter, als der Gewinn aus einem grossen Prozess.

Wenn sich die Einnahme mehrt, so vergrössert nie Euere Ausgabe; denn Ihr könnet die Ausgabe nicht leicht verkleinern.
Das ist fu(e)r Haushaltungen die gefa(e)hrlichste Zeit, wenn sie mit einem Mal eine grosse Summe empfangen; denn da wird allerlei Gelu(e)ste rege. Also schnell das Geld aus dem Hause; Schulden abbezahlt oder die Baarschaft auf Zinse gelegt! Aus dem Auge, aus dem Sinn. Man widersteht der Versuchung am allerbestern, wenn man sie vermeidet. Was man nicht mehr hat, gibt man nicht mehr weg. Geld am Zins macht den Bettler zum Prinz. Man kann das Geld alle Tage gebrauchen, aber nicht alle Tage haben. D’rum habt es alle Tage, so ko(e)nnt Ihr’s, wenn es sein muss, alle Tage gebrauchen.

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